Praxiseinblicke aus dem Buch

Parzellen überwinden, Selbstorganisation in einem IT-Unternehmen

                                                                    

Wie war die Ausgangssituation vor dem Start der Transformation?
BARTH: Nach unserer Gründung 2001 sind wir sehr schnell gewachsen, was bspw. dazu geführt hat, dass wir erst 2012 unser erstes Organigramm entwickelt haben. Bis dahin waren wir um die Projekte der damaligen zwei Geschäftsführer organisiert. Nachdem wir erkannt haben, dass diese Struktur für das wachsende Geschäft nicht mehr passend war, haben wir eine Bereichsstruktur eingeführt. Die Bereiche verstanden sich als Profit-Center und die Bereichsleiter waren sowohl für Vertrieb als auch die Operation verantwortlich. Das hat zu Parzellen und Zäunen geführt …

Was meinen Sie damit?
BARTH:
Die Bereichsleitungen waren gute Projektmanager, zum Teil auch gute Führungskräfte, verfügten aber über keine Expertise in Vertriebsarbeit. Sie konnten daher die Leistungen des Bereichs nicht verkaufen. Eine weitere Herausforderung war, dass die Bereiche unter Druck standen, für sich alleinstehend wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Das hatte zur Folge, dass Bereichsleitungen nur wenig bereit waren, andere Bereiche bei Kapazitätsengpässen zu unterstützen, da diese im Zweifelsfall in den eigenen Projekten gefehlt hätten. Bei einem Unternehmen, das auf Projektgeschäften aufbaut, war das ein echtes Grundsatzproblem.

Was hat bei Ihnen ein Umsteuern ausgelöst?
BARTH:
Der Auslöser war, zu erkennen und wahrzunehmen, was bei uns zu dem Zeitpunkt nicht gut funktionierte. Dabei half uns, dass einer meiner Kollegen und ich von außen als Geschäftsführer und Teilhaber mit frischem Blick auf die Organisation geschaut haben. Gleichzeitig kamen wir beide aus eher „unproduktiven hierarchischen“ Strukturen von Großunternehmen und hatten eine Sehnsucht und eine Vision, im eigenen Unternehmen Arbeit anders und transparenter umzusetzen. Insofern waren wir beide sicherlich wichtige Auslöser für den dann angestoßenen Wandel – aber am Ende mussten alle vier Geschäftsführer am selben Strang ziehen.

Hatten Sie zu diesem Zeitpunkt eine klare Vorstellung davon, wohin sich das Unternehmen
entwickeln sollte?
BARTH:
Nein, wir hatten kein fertiges in Detail ausgeprägtes Zielbild in dem Sinne, dass uns genau klar war, wie die Organisation in einigen Jahren ausschauen würde. Vielmehr hat uns angeleitet, dass wir Arbeit transparent und anders organisieren wollen: Weg von konzernartigen Kommunikationsstrukturen, vom Übereinandersprechen, von der Eskalation in Linien – in denen man als Chef einen E-Mail-Thread erhält, in dem sich Mitarbeiter verschiedener Hierarchieebenen gegenseitig beschimpfen. Wir wollten Zeit haben, uns wirklich um die Entwicklung unseres Geschäfts zu kümmern. Diese Sehnsucht, wie wir gerne arbeiten würden, war für mich persönlich und wie ich glaube, für uns alle der Haupttreiber.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?
BARTH:
Begonnen haben wir damit, dass wir 2016 die Profit-Center abgeschafft haben und die fachliche und disziplinarische Führung der Bereichsleitungen getrennt haben. Gleichzeitig haben wir eine gemeinsame Personaldisposition eingeführt und noch einmal sehr genau gemeinsam definiert, was wir unter disziplinarischer Führung verstehen. Hier haben wir u. a. einen Fokus auf Personalentwicklung gelegt – wir bezeichnen das als „menschliche Führung“. Gleichzeitig haben wir mehr Verantwortung an die Mitarbeiter gegeben, sodass wir bei uns eigentlich keinen Prozess mehr haben, der regelhaft eine disziplinarische Führungskraft erfordert. Diese ersten Erfahrungen haben wir dann regelmäßig in unseren Management Retreats reflektiert und dabei erkannt, dass unser Ansatz dem agilen Management sehr nahe kommt: Entscheidungen in die Fläche bringen, Trennung von fachlicher und disziplinarischer Führung, ein hoher Grad an Selbstständigkeit bei den Teams. Das haben wir dann über die Jahre immer weiter entwickelt mit Prinzipien, denen wir folgen. Dabei haben wir die Entwicklung immer mehr als von Mitarbeiter:innen getriebenen Prozess gestaltet, indem wir uns kontinuierlich weiter auf den Weg der Selbstorganisation begeben haben.

Wie kann man sich den selbstorganisierten Alltag heute vorstellen?
BARTH:
Im Laufe der Jahre haben wir beispielsweise für Themen, die eigentlich eine Stabsfunktion erfordern, ein Government-Werkzeug entwickelt, das sich bei uns Fokusgruppen nennt. Mitarbeiter:innen, die ein Problem haben, können eine Gruppe bilden, sich gemeinsam ein Ziel mit Frist setzen und einfach loslegen. Entscheidungen der Fokusgruppe müssen mit allen Betroffenen abgestimmt werden. Wenn alle Mitarbeiter:innen betroffen sind, organisieren wir eine sogenannte „Speakers-Corner“-Veranstaltung, in der die Gruppe erklärt, worüber sie eine Entscheidung erwirken möchte – und diese Entscheidung unterliegt dann in dieser Veranstaltung keinem demokratischen Prinzip, sondern dem Konsent-Prinzip. Das bedeutet: Wenn niemand ein plausibles Gegenargument hat, dann findet es so statt, wie die Gruppe es zur Entscheidung vorgelegt hat. Für längerfristig relevante Themen, wie die Mitarbeiter:innenentwicklung, die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle oder das Recruiting, haben wir Service-Boards – also langfristig bestehende Gruppen gebildet. Dadurch sind viele Themen nicht mehr an eine Fachabteilung gebunden, sondern an eine Anzahl Mitarbeiter:innen, die sich für das Thema interessieren. Diese Boards verantworten dabei auch das teilweise nicht unerhebliche Budget.

Was ist für Sie bei Selbstorganisation entscheidend?
BARTH:
Entscheidend bei der Selbstorganisation ist, nicht einzugreifen, auch wenn man es selbst anders gemacht hätte, und Vertrauen in die Eigenverantwortung der Mitarbeiter:innen zu legen. In sehr vielen Fällen sind durch dieses Vorgehen sehr erfolgreiche und wichtige Entwicklungen angestoßen und umgesetzt worden. Nennen kann man hier die Einführung einer neuen Kommunikationsplattform für die Mitarbeiter:innen, die Verabschiedung der Vision, die Entwicklung einer Verfassung, aber auch ganz technische Dinge wie das über Bord Werfen und Neufassen des „Entwicklungstechnologie-Stack“ – also die Systemlandschaft, die wir als Unternehmen zur Organisation unserer Arbeit nutzen.

Wie haben Führungskräfte und die Mitarbeiter:innen diese Veränderung erlebt?
BARTH:
Es war für alle eine Umstellung und persönliche Veränderung. Für die meisten Führungskräfte bedeutet es eine Erleichterung, sich nicht mehr um Alltagsorganisation kümmern zu müssen, sondern viel mehr Zeit zu haben, um beispielsweise Querschnittsaufgaben für die Gesamtorganisation zu übernehmen. Allerdings gab es auch Führungskräfte, die nicht bereit waren, diese Entwicklung zusammen mit uns zu gehen und sich zu verändern, und diese haben dann die Firma auch verlassen.Bei den Mitarbeiter:innen ging es eher darum, die Ängste zu überwinden, dass der Arbeitsalltag nicht funktioniert und die Struktur fehlt. Dies hat sich aber im Laufe der Zeit geklärt. Das Ausfüllen der neuen Rollen in den Fokusgruppen ist den Mitarbeiter:innen zunächst auch nicht leicht gefallen. So brauchten Fokusgruppen am Anfang, um erfolgreich zu sein, eine Unterstützung durch Mitglieder des erweiterten Managementkreises. Mittlerweile ist das aber nicht mehr so. Die Beteiligung an den verschiedenen Formaten ist auch sehr unterschiedlich. Über die Jahre hat sich ein Kreis von etwa 20 % der Mitarbeiter:innen herauskristallisiert, die sich sehr breit im Unternehmen in unterschiedlichsten Kontexten engagieren, während sich die anderen eher auf ihre fachlichen Aufgaben konzentrieren.

Was waren aus Ihrer heutigen Sicht die Erfolgsfaktoren für die Transformation ihrer
Arbeitsweise?

BARTH: Es gab mehrere wichtige Aspekte. Zunächst haben wir als Geschäftsführer an einem Strang gezogen, und für uns als Unternehmer im Unternehmen war dabei die Ernsthaftigkeit des Vorgehens wichtig. Dann haben wir von Anfang an auf Transparenz gesetzt – auch in unangenehmen Situationen, wenn es beispielsweise um Entlassungen ging. Mit dem zunehmenden Wissen der Mitarbeiter:innen wurde auch die immer stärkere Beteiligung und Einbeziehung in die Unternehmensentwicklung möglich. Und schließlich war das evolutionäre Vorgehen zentral: Indem wir Dinge ausprobiert, sie reflektiert und diese immer wieder angepasst haben, wenn es nicht funktioniert hat.

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